aus Crailsheim/Tübingen
Artikel von Leonie Freudenfeld
Arnold Wochenmark wurde am 31. März 1921 in Crailsheim geboren, als zweiter Sohn von Bella und Josef Wochenmark. Sein Vater war Vorsänger der jüdischen Gemeinde und studierte jüdische Theologie, um Rabbiner zu werden. Als Arnold vier Jahre alt war, wurde der Vater versetzt und die Familie zog nach Tübingen. Die Familie – also Arnold mit seinen Eltern, seinem älteren Bruder Alfred und einem Dienstmädchen – wohnte in einer Sechs-Zimmer-Wohnung in der Wöhrdstraße 23. Ein Zimmer vermietete die Familie regelmäßig an jüdische Studierende. Seine Eltern beschrieb Arnold als sehr seriös. Der Vater legte großen Wert auf die Bildung seiner Söhne, sowohl was Allgemeinbildung als auch religiöse Fragen anging. Zudem wurde durch die Studierenden am Tisch der Familie viel über Judentum und Politik diskutiert und viel gelacht. Arnold besuchte in Tübingen nach der Grundschule das Uhland-Gymnasium. Seine frühe Kindheit hatte er als sehr idyllisch in Erinnerung – vom Glockenspiel der Kirchturmuhr bis zum Schlittenfahren auf dem Österberg.
Antisemitische Ausgrenzung in der Schule
„von einer Schule zu der anderen. Wie wenn ein Vorhang gefallen wäre. Plötzlich war ich ein Fremder. Ich kann mich erinnern, es war so Sitte, die Schüler kamen zur Schule, vor dem Schulgebäude hat man sich versammelt. Noch bevor die Glocke geläutet hat, ist man herumgegangen und hat sich zur Begrüßung die Hand geschüttelt. Nach dem Januar 1933 hat es keine Handschläge mehr für mich gegeben. Ich habe mich isoliert gefühlt.
Dann kann ich mich an einen Schulausflug mit der Bahn erinnern, und dabei sind wir gewandert, und vom Anfang bis zum Ende des Ausflugs wurde ich gemieden, wie wenn ich aussätzig wäre. Ich kann mich auch erinnern: Meine Mutter hat mir das Essen eingepackt in den Rucksack. Ich war so zerschlagen, dass ich nichts gegessen hatte. Ich kam nach Hause und die Mutter sah mich, daß ich ziemlich zerstört war und schaute in den Rucksack: ‚Aber Kind du hast ja gar nichts gegessen!‘ Dann bin ich in Tränen ausgebrochen und habe ihr erzählt, daß von dem Moment, als ich am Bahnhof eintraf, nicht ein Mitschüler neben mir gelaufen ist. Im Gegenteil, wenn jemand aus Versehen an mich herangekommen war, ist er weggegangen. Sogar der Lehrer hat mich gemieden.“
Flucht des Bruders Alfred in die Schweiz
Unter diesen Umständen litten auch seine schulischen Leistungen: Bald wurde er auf die Realschule versetzt.
Doch nicht nur in der Schule spürte Arnold den wachsenden Antisemitismus. Bereits im April 1933, kurz nachdem die Nazis Anfang März die Reichstagswahl gewonnen hatten, kam es zum Geschäftsboykott in Tübingen. Die Tübinger Bürger*innen waren dazu aufgerufen, nicht mehr in Geschäften mit jüdischen InhaberInnen zu kaufen.
Aus Sorge vor Ausschreitungen wurden Arnold und sein Bruder für kurze Zeit zu ihrem Onkel nach Basel (Schweiz) geschickt.
Die Unsicherheit über die Entwicklungen in Deutschland sorgte dafür, dass auch aus Tübingen bereits kurze Zeit nach dem nationalsozialistischen Machtantritt viele Jüdinnen und Juden emigrierten. Einer der ersten war Arnolds Bruder Alfred, der schon früh den Antisemitismus in Tübingen zu spüren bekommen hatte und sich schon 1933 – mit 16 Jahren – entschloss, in die Schweiz auszuwandern.
Die Familie blieb jedoch in Deutschland. Die jüdische Gemeinde in Tübingen wurde so klein, dass der Vater 1934 wieder versetzt wurde – dieses Mal nach Schwäbisch Gmünd.
Die Familie bleibt in Schwäbisch Gmünd
Das Leben der Familie wurde immer stärker von der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten beeinträchtigt. Arnold erzählt:
„… das Leben in Schwäbisch Gmünd war noch viel eingeschränkter als in Tübingen ... Wir verkehrten nur mit Juden, und man hat so langsam alles aufgeben müssen, man mußte das Radio abgeben, man mußte das Telefon aufgeben.
Ein öffentliches Schwimmbad gab es, aber man durfte nicht mehr dort hingehen. Es war sehr deprimierend. Man hatte keine Freude mehr am Leben. Doch meine Eltern und ich haben zusammengehalten. Aber wie gesagt, man war deprimiert.“
Doch trotz alledem planten Arnolds Eltern, zunächst noch zu bleiben. Sie wollten warten, bis Arnold sein Abitur abgeschlossen und Alfred die Lehre in der Schweiz beendet hatte, um dann gemeinsam in die USA auszuwandern.
Arnold Wochenmark flieht zu seinem Bruder in die Schweiz
Arnold entschied sich gegen diesen Plan:
„Mein Bruder hat einen Brief an die Eltern geschrieben, daß der Onkel eine Lehrstelle offen hat für einen Bäcker, und ob ich daran interessiert sei. Und obwohl meine Eltern mir das verheimlichen wollten – sie wollten, daß ich mein Abitur noch mache –, habe ich das Angebot angenommen: Ich bin auf das Postamt gegangen und habe nach Basel angerufen. Da hat mein Bruder mir gesagt, ich muß mich schnell entschließen, ‚denn wenn du nicht kommst, kommt jemand anderes.‘ ‚Du kannst dem Onkel sagen, ich komme.‘ Ich habe meine Eltern mit diesem Entschluß konfrontiert und habe ihnen gesagt, der Entschluß steht fest: ‚Ich gehe weg. Je schneller, je besser.‘ ... Ich war froh wegzugehen.“
Dieser Entschluss rettete Arnold Wochenmark das Leben, wie sich später zeigte. Er reiste im Sommer 1937 legal nach Basel, um dort seine Ausbildung in einer koscheren Bäckerei zu beginnen. Während seiner dreijährigen Lehre wohnte er beim Onkel. Sechs Tage die Woche arbeitete er nun von 3 Uhr morgens bis 12 Uhr mittags, backte und fuhr anschließend die Backwaren zu den Kund*innen aus.
Deportation der Eltern und Fluchtpläne in die USA
Direkt nach seiner Einwanderung versuchte Arnold Wochenmark seine Eltern in die Schweiz nachzuholen. Doch von den Schweizer Behörden bekam er nur die Antwort: „Die Einwanderung Ihrer Eltern ist unerwünscht“.
Die Eltern mussten in Stuttgart zunächst in ein sogenanntes ‚Judenhaus‘ umziehen. Häuser wie dieses wurden seit 1939 von den Nationalsozialisten eigens für Menschen jüdischer Herkunft eingerichtet, damit sie nicht mit ‘deutschen’ Menschen unter einem Dach wohnen. 1943 folgte der Deportationsbefehl ins Konzentrationslager.
Bella und Josef Wochenmark entschieden sich für den Suizid, doch während Josef am 8. März 1943 starb, überlebte Bella schwer verletzt und wurde zunächst nach Theresienstadt, schließlich nach Auschwitz deportiert und ermordet. Die Söhne erfuhren erst nach dem Krieg vom Schicksal ihrer Eltern.
Auch in der Schweiz wuchs unterdessen der Antisemitismus. Arnold Wochenmark konnte immerhin schnell akzentfrei Schweizerdeutsch, sodass er von der Bevölkerung noch recht gut akzeptiert wurde.
Arbeitslager Schauenburg
Um den Aufenthalt unattraktiver zu gestalten, führte die Schweiz für die Geflüchteten im März 1940 eine Arbeitspflicht im Straßenbau und der Landwirtschaft ein. Arnold Wochenmark meldete sich im Arbeitslager Schauenburg, wo er zwischen Juli 1941 bis September 1942 schwere Straßenbauarbeiten verrichten musste. Arnold Wochenmark erzählt:
„Das Arbeitslager war nicht von Stacheldraht umzäunt, aber es wurde natürlich sehr kontrolliert, und wir mußten schwere Arbeit verrichten. Das Essen war schlecht, wenig Fett, kein Fleisch, wegen koscherem Essen. Es war ein koscheres Arbeitslager. Hauptnahrung waren Kartoffeln und Kraut. Das war nicht rationiert."
Heirat mit Johanna geb. Braunschweig
Am Wochenende, wenn er frei hatte, konnte er immer wieder nach Basel fahren und seine spätere Ehefrau Johanna Braunschweig besuchen. Johanna und Arnold hatten sich kurz zuvor während seiner Bäckerlehre kennengelernt. Sie war aus Frankreich in die Schweiz zu ihrer Schwester geflüchtet, die die Ehefrau des Sohnes von Arnolds Bäckermeister war. Auch wenn es Arnold Wochenmark verhältnismäßig gut ging, blieb die Angst. Die Schweiz hatte durch die Arbeitspflicht die Bedingungen bereits stark verschlechtert. Würde sie die Flüchtlinge am Ende doch noch an Deutschland ausliefern?
„Wir haben uns gefühlt wie die Maus in der Falle, und die Katze schaut rein.“
Durch eigene Verhandlungen konnte Arnold Wochenmark mehrmals Urlaub vom Lager erreichen, um für einige Monate als Kochvolontär zu arbeiten.
Nach Kriegsende heirateten Johanna und Arnold Wochenmark am 18. März 1945.
Auswanderung in die USA kurz nach dem Krieg
Endlich konnte der Plan der Auswanderung in die USA umgesetzt werden. Auch wenn der Krieg vorbei war, wollte Arnold Wochenmark nicht länger in Deutschland bleiben:
„Ich wollte nie mehr deutschen und nie mehr europäischen Boden betreten ... Für mich war Europa abgeschlossen, ein Friedhof.“
Alfred bereitete alles für ihre Einwanderung vor:
„Er hat uns die Affidavits [sc. Bürgschaft] zusammen mit Verwandten von meiner Frau besorgt. Er hat sich dann mit denen in Verbindung gesetzt, ... denn wir hatten ja kein Geld. Und die hatten das Geld vorgestreckt. Darüber ist die Überreise bezahlt worden.“
Dennoch war es ein langwieriger Prozess, die Genehmigung vom amerikanischen Konsulat zu bekommen. Doch Arnold Wochenmark blieb hartnäckig und hatte schließlich Erfolg. Zusammen mit seiner inzwischen schwangeren Frau fuhr er nach Antwerpen, um von dort nach New York überzusetzen. Kommerzielle Reisen von Europa in die USA gab es noch nicht, sie reisten 16 Tage auf einem Frachtdampfer.
In New York wohnten sie zunächst in einem kleinen Kellerzimmer bei Johanna Wochenmarks Bruder in der Bronx, dann bei einem Bekannten der Familie im Vorort Astoria. Arnold fand schnell eine Anstellung als Konditor-Chef, womit der Lebensunterhalt der Familie vorerst gesichert war.
Arnold Wochenmark als "self-made man" in San Francisco
Doch Arnold Wochenmark wollte mehr: Er träumte vom „self-made man“. Über den Kontakt zum Inhaber von Nestlé, Herr Sachs, wurde Arnold 1947 leitender Angestellter einer Pralinés-Fabrik in San Francisco und wurde bald sogar Geschäftsführer.
1949 bekam Johanna das zweite Kind und sie kauften gemeinsam ein Haus. Der kleinen Familie ging es gut in San Francisco. 1952 folgte bereits das dritte Kind. Um noch mehr finanzielle Sicherheit zu bekommen, machte Arnold Wochenmark neben seiner Arbeit als Geschäftsführer eine Ausbildung zum Versicherungsagenten.
Amerikanische Staatsbürgerschaft 1951 und Namensänderung
Damit begann seine zweite Karriere: Ab 1954 arbeitete Arnold Wochenmark als Versicherungsagent für Auto- und Feuerversicherungen und konnte durch die Mitarbeit seiner Frau zunächst einen kleinen Familienbetrieb aufbauen, der bald zu einem angesehenen Versicherungsgeschäft mit einigen Angestellten wurde. Er konnte sich seinen Traum erfüllen.
1951 erhielten Johanna und Arnold Wochenmark offiziell die amerikanische Staatsbürgerschaft und änderten ihren Nachnamen zu Marque. Wie die eigenen Eltern bei ihm, legte er in der Erziehung seiner Kinder viel Wert auf Bildung: Alle drei haben in den USA eine universitäre Ausbildung genossen. Der jüdische Glaube wurde jedoch durch den Verlust der Eltern im Holocaust und den frühen Tod seiner Tochter Linda tief erschüttert.
Das eigene Verständnis als jüdisch und die jüdische Lebensphilosophie jedoch blieben.
Entschädigungszahlungen aus Deutschland
Ende der 1950er beantragten Arnold Marque und sein Bruder Entschädigung für die NS-Verbrechen beim Landratsamt Tübingen. Arnold erzählt:
„Am Anfang wollte ich das überhaupt nicht machen. Deutschland, so war damals meine Meinung, ist fertig für mich. Ich will es nicht mehr sehen, nicht mehr hören. Und dann hat man mir gesagt, du bist doch blöd. Man hat dir alles gestohlen, ... was ihr gehabt habt. Man hat deine Verwandten umgebracht. Nimm das an. Und das waren meine Beweggründe. Warum denen was schenken?“
Den eingereichten Betrag von 34.000 Reichsmark, u.a. für den Verlust der Wohnungseinrichtung und die Freiheitsberaubung der Mutter, reduzierte die Wiedergutmachungsbehörde auf 9.700 Reichsmark. Nach der Berechnung des Wertverlustes der Währung wurden den Brüdern gerade einmal 1.567 DM ausgezahlt.
Arnold Marque reiste mehrmals nach Deutschland. Er kam von 1981 bis 2004 vier Mal offiziell als Sprecher der Besuchergruppe der ehemaligen Tübinger Juden nach Tübingen. Am Anfang sei er als Ankläger gekommen - später als Zeitzeuge.
Arnold Marque starb im Oktober 2016.
Literatur- und Quellenangaben
Geschichtswerkstatt Tübingen: “Wege der Tübinger Juden - Eine Spurensuche.” Film von 2004.
Geschichtswerkstatt Tübingen (Hg.): "Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden." Stuttgart 1995. Darin:
Martin Ulmer: Neue Heimat nach 13 Jahren Fluchtodyssee. Auf den Spuren von Arnold und Johanna Marque, S. 319-344.
Martin Ulmer: Jüdische Minderheit in Tübingen - Versuch eines Soziogramms, S. 38-55.
Eva-Maria Klein: Gründung, Blüte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in Tübingen, S. 257-271.