aus Tübingen
Artikel von Ella Detscher
Michal Wager wurde 1921 als Liselotte Schäfer in Tübingen geboren. Sie hatte eine zehn Jahre ältere Schwester namens Herta. Ihre Eltern waren Albert und Selma Schäfer, die gemeinsam mit dem Ehepaar Oppenheimer das populäre und erfolgreiche Modegeschäft „Degginger Nachfolger“ am Holzmarkt führten. Anfangs lebte die Familie in der Herrenberger Straße, bevor sie später in das Obergeschoss des Geschäfts am Holzmarkts zogen. Ihre Eltern waren in der jüdischen Gemeinde Tübingens und wohltätig aktiv. Dass sie Jüdin ist, wurde ihr jedoch erst klar, als ihre Eltern nicht wollten, dass sie den christlichen Religionsunterricht in der Schule besucht.
„Ich kann mich erinnern, dass ich mich sehr schlecht gefühlt habe. Und ich konnte nicht verstehen, warum ich das nicht hören darf. Und alle meine Freundinnen, die waren keine Jüdinnen, es gab keine Jüdinnen in meinem Alter. Die Doris Bernheim hab ich erst später kennengelernt.“
Antisemitische Ausgrenzung in der Schule
Michal besuchte nach der Volksschule (ähnlich wie Grundschule) die Mädchen-Oberrealschule (heute Wildermuth-Gymnasium). Ab 1933, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, litt sie unter der Ausgrenzung durch ihre Mitschülerinnen. Als jüdisches Mädchen war sie vom BDM (nationalsozialistische Jugendorganisation für Mädchen) ausgeschlossen. Sie erinnert sich:
„In der Schule war ich ganz allein und man hat ganz wenig mit mir gesprochen oder überhaupt nicht. […] Ich wurde gemieden von allen. Auch in der Schule und auch nach der Schule.“
Mit Berta Kaiser, die einzige Freundin, die nicht im BDM war, blieb sie bis ins Alter befreundet.
Wirtschaftliche Ausplünderung des Familiengeschäfts
Michal erlebte mit, wie die Nationalsozialisten ihre Eltern immer mehr unter Druck setzten und in die Armut trieben: Durch Gesetze und politische Aktionen wurde das Geschäft boykottiert und nach und nach ruiniert. Am 1. April 1933 wurden KundInnen von der SA daran gehindert, das Geschäft zu betreten. Michal erinnerte sich, dass ihre Eltern am Abend weinend nach Hause kamen:
„Sie waren sehr bestürzt, und meine Eltern konnten es nicht glauben (...) Sie waren unter denen, die gesagt haben, das geht vorüber.“ „Sie haben sich als Deutsche gefühlt.“
Danach kamen nur noch ganz wenige Kunden, bis dem Vater und seinem Mit-Inhaber 1935 nichts anderes übrigblieb, als das Geschäft zunächst an den NSDAP-Gemeinderat, Karl Haidt, zu verpachten und Ende 1938 zu einem Preis weit unter Wert an diesen zu verkaufen.
Flucht ins damalige Palästina
Ihre große Schwester Herta war 1937 mit ihrem Mann in die USA geflohen, und auch Michal wollte Deutschland verlassen. Sie schloss sich als einzige Tübingerin der Jugend-Alija an, einer zionistischen Organisation, von der sie in einer Zeitung erfahren hatte. Sie wollte nicht weiter alleine sein. Im Frühsommer 1937 nahm sie in Neuesting bei München an einem sechswöchigen Kurs teil, wo sie viele der anderen Jugendlichen kennenlernte, mit denen sie auf die Ausreise und das Leben in Palästina vorbereitet wurde. Die Eltern blieben in Tübingen zurück, weil sie noch immer nicht glauben konnten (oder wollten?), in welcher Gefahr sie sich befanden. Sie waren überhaupt nicht begeistert davon, dass ihre Tochter ausreisen wollte, erlaubten es ihr aber. Sie fuhr mit dem Zug nach Triest (Italien).
Von dort aus fuhr ein Schiff mit weiteren Ausreisenden der Jugend-Alijah nach Haifa (Palästina). In Haifa wurden sie abgeholt und ins Landesinnere zu einem Kibbuz gebracht. Hier wurden sie freundlich empfangen und in ein zweistöckiges Haus geführt.
Leben im Kibbuz
In Palästina trafen sich vertriebene Juden aus ganz Deutschland und Michal erinnert sich:
„Ein Junge kam aus Öttingen, der hat immer Schwäbisch gesprochen und keiner hat ihn verstanden. Ich habe übersetzt, ins Hochdeutsche.“
Im Kibbuz gab es viel Arbeit, aber es gefiel ihr:
„In Tübingen war ich allein. Hier gehörte ich zu einer Gruppe, zu einer Bewegung, die die Kibbuzim aufbaut.“
Michal Wager arbeitete im Gemüsegarten und in der Küche, am Nachmittag wurde drei Stunden lang u.a. Hebräisch gelernt.
KZ-Haft des Vaters und Deportation der Mutter
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde auch die Tübinger Synagoge zerstört und viele jüdische Männer in Konzentrationslager gebracht. Auch Michals Vater wurde ins KZ Dachau deportiert. Diese November-Pogrome waren eine deutliches Signal der Nazis an die jüdische Bevölkerung, dass es höchste Zeit sei, Deutschland zu verlassen. Unter dieser Auflage kam auch der Vater wieder frei. Michals Eltern sahen nun ein, dass sie in Deutschland nicht mehr sicher waren. Sie hatten jedoch, wie so viele, kein Geld für die Ausreise mehr, und baten ihre Tochter Michal um Hilfe.
Da das Kibbuz nicht bei der Auswanderung ihrer Eltern helfen konnte, wollte die 17-Jährige nach Tel Aviv gehen, um Geld zu verdienen und damit ihren Eltern die Ausreise zu ermöglichen, was aber wegen des Kriegsbeginns nicht mehr möglich wurde. Auch ihre Schwester in den USA konnte die 500 Dollar für die Bürgschaft nicht zusammenbringen. 1941 kam noch einmal ein Brief aus Tübingen, in dem ihre Mutter ihr mitteilte, dass der Vater an den Folgen der KZ-Haft gestorben war. Er war der letzte Tübinger Jude, der auf dem jüdischen Friedhof in Wankheim begraben wurde. Ab dann hatte Liselotte keinen Kontakt mehr nach Tübingen.
Die Mutter Selma war als einzige der Familie noch dort. Sie wurde 1941 nach Haigerloch zwangsumgesiedelt. Von dort wurde sie über das Sammellager auf dem Stuttgarter Killesberg nach Riga, in Lettland, deportiert. Sie wurde am 10. Februar 1942 im Wald von Riga von der SS erschossen. Michal erfuhr dies erst 40 Jahre später, als sie das erste Mal zu Besuch nach Tübingen kam.
Flüchtlingshilfe im Palmach
Wie viele der jungen geflüchteten Juden in Palästina schloss sich Michal Wager Anfang der 1940er Jahre dem britischen Militär an, das damals die politische Macht in Palästina hatte.
„Als man im Jahre 41 manches gehört hat, nicht alles, aber wir haben gewusst mehr oder weniger, also eher weniger, aber dass es sehr sehr schlimm dort [in Deutschland] war und ich wollte irgendwas machen, aber ich wusste nicht was.“
Doch als die Briten keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen wollte, schloss sie sich drei Jahre lang der Untergrundorganisation Palmach an:
„Die Engländer wollten diese Leute wieder zurückschicken. Wir haben am Meer auf sie gewartet und sie untergebracht. Einmal haben wir bei einem englischen Lager für die Illegalen nachts die Zäune aufgeschnitten und die Flüchtlinge auf verschiedene Kibbuzim verteilt.“
Leben nach dem Zweiten Weltkrieg
1946 heiratete Liselotte Schäfer Elijahu Wager. Seitdem heißt sie Michal Wager. Sie bekam drei Kinder und gemeinsam mit anderen Familien gründeten die Wagers den Kibbuz „Ginosar“ am See Genezareth. Die arabischen Bewohnerinnen und Bewohner eines benachbarten Dorfes schossen währed des Unabhängigkeitskriegs immer wieder auf die Siedlung.
„Wir haben dann die Kinder unters Bett gelegt. Es gab ja keine Bunker.“
Auch sonst waren die Lebensumstände bescheiden:
„Wir haben viel Brot mit Gsälz [schwäbisch für Marmelade] gegessen, hatten es aber immer noch besser als in der Stadt, wir hatten die Fische aus dem See."
Besuch in Tübingen Jahrzehnte später
Später ging Michal Wager zweimal in der Woche ins Yad-Vashem-Archiv und übersetzte dort als ehrenamtliche Mitarbeiterin Zeugenaussagen von Überlebenden des Holocaust ins Hebräische.
1950 entschied das Landgericht Tübingen, dass Karl Haidt eine finanzielle Entschädigung an die Kinder der ehemaligen jüdischen Eigentümer zahlen muss. Die Familie Haidt führte das Geschäft bis 2007 weiter. Seitdem vermietet sie das Haus an die Modekette „New Yorker“. Seit 2018 erinnern Stolpersteine vor dem Eingang zum Geschäft an die Familien Schäfer und Oppenheimer.
Eine Klasse des Wildermuth-Gymasiums besuchte Michal Wager in den 1990er Jahren in Jerusalem. Dabei traf sie auch die Enkelin von Karl Haidt. Diese hörte das erste Mal davon, unter welchen ungerechten Bedingungen ihr Großvater zu dem Haus mit dem Geschäft gekommen war.
Michal Wager kam auf Einladung einer ehrenamtlichen Initiative, der Geschichtswerkstatt Tübingen, erstmals 1981 nach Tübingen. Erst habe sie gezögert, aber eine Freundin und ihr Mann ermutigten sie. Es war auch eine Gelegenheit, alte Bekannte wieder zu sehen, von denen sie in ihrer Jugend getrennt worden war. Dort erfuhr sie auch von der Deportation und dem Mord an ihrer Mutter.
„Das hat mir der Victor Marx erzählt. Er war auch in Riga und seine Frau und seine Tochter sind mit meiner Mutter zusammen getötet worden.“
Literatur- und Quellenangaben
Geschichtswerkstatt Tübingen: “Wege der Tübinger Juden - Eine Spurensuche.” Film von 2004.
Geschichtswerkstatt Tübingen (Hg.): "Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden." Stuttgart 1995.