aus Tübingen
Artikel von Ella Detscher
Noemi Hamm wurde 1928 in Karlsruhe als Inge Lion geboren. Sie wuchs seit 1930 Tübingen auf, wo ihr Vater Gustav Lion in der Neckargasse ein Textilwarengeschäft hatte, in dem auch die Mutter mitarbeitete. Eine der wenigen Erinnerungen an ihre Kindheit ist, dass sie vom Metzger Späth, der sein Geschäft gegenüber hatte, als Kind immer eine Scheibe Blutwurst dafür bekam, dass sie ihm morgens die Zeitung brachte. Die jüdischen Speisegesetze verbieten eigentlich den Verzehr von Blutwurst, denn diese ist nicht kosher. Und als die Tochter dieses Nachbars heiratete, sollte Noemi als Brautjungfer bei der Hochzeit dabei sein, was ihr dann aber kurzfristig doch nicht erlaubt wurde.
„Ich hatte mich als fünf-jähriges Kind sehr darauf gefreut und war sehr enttäuscht und hab es nicht verstanden.“
Eine kleine Erinnerungen ist auch, dass Frauen am Neckarbad Wäsche wuschen. Der Zugang zu diesem mitterlalterlichen Waschplatz befindet sich in der Bursagasse.
Nationalsozialistische Verfolgung und Flucht
Am 1. April 1933 boykottierten Nationalsozialisten wie im ganzen Reich auch in Tübingen jüdische Geschäfte. Juden sollten finanziell ruiniert werden und somit zur Ausreise gezwungen werden. Noemi erinnerte sich daran als ein sehr aufregendes Erlebnis:
„Wir, meine Mutter und ich, haben am Fenster gestanden und es war furchtbar viel Krach auf der Straße. Und das war sehr interessant für mich. Man hat Plakate an die Fenster vom Geschäft meines Vaters geklebt. Und mein Vater hat diese heruntergerissen, weil man wusste noch nicht, welche Gefahr darin besteht. […] Aber dann wurde meinem Vater nahegelegt, dass er Tübingen verlassen soll, so schnell wie möglich.“
„Ich erinnere mich an keinen Abschied. Wir haben uns nicht verabschiedet, von keinem.“
Sie war erst sechs Jahre alt, als sie mit ihren Eltern Tübingen wieder verließ. Nachdem die Eltern bei Bekannten Geld für die Flucht beschaffen konnten, floh die Familie 1934 ins Elsaß, nach Hagenau. Ihr Vater hatte keine Arbeitserlaubnis mehr, sodass die jüdische Gemeinde Hagenau die Familie ‚durchfütterte‘. Dann gingen sie zu Verwandten nach Karlsruhe, auch um Geld für die Ausreise zu leihen, allerdings wollten die Verwandten die Ausreise nach Palästina nicht unterstützen. Um dort einreisen zu dürfen, mussten die Flüchtenden einen Nachweis bringen, dass sie finanziell abgesichert waren. Deshalb konnten die Familie die Reise erst antreten, also Bekannte ihnen das Geld liehen. 1936 kam die Familie schließlich in Haifa an. Seitdem lebte Noemi Hamm in Israel.
Umgang mit den Erinnerungen?
Von den Umständen in Tübingen, die sie als kleines Kind nicht erinnern oder verstehen konnte, las sie erst später. Beispielsweise, dass Nazis, darunter der spätere Kriegsverbrecher Theodor Dannecker, der quasi nebenan in der Bursagasse 2 wohnte, ihrem Vater schon von Beginn an das Leben schwer machten. Ihre Eltern haben ihr auch später nie etwas erzählt:
„Ich gehöre noch zu einer Generation, wo die Kinder nichts wissen durften. Und leider… Ich hatte noch viele Fragen zu fragen.“
Insgesamt hat Noemi Hamm fast keine Erinnerungen an die Zeit in Tübingen, da sie ja erst sechs Jahre alt war, als die Familie Tübingen verließ. Fotos aus ihrer Kindheit halfen ihr, sich an Einzelnes zu erinnern: Als Kind spielte sie mit ihren Freundinnen Edith Marx und Renate Hayum auf der Platanenallee, die sie „Kastanienallee“ nannten, auf der Neckarinsel. Ein weiteres Bild dokumentiert auch ihre Freundschaft zu Doro Walz, die nach dem Krieg weiterging: Noemi, ihre Freundin Doro und deren Geschwister hatten sich als Ehepaar verkleidet und spielten Hochzeit. Beide bekamen einen Abzug des Fotos und Naomi nahm es mit nach Israel.
Besuch in Tübingen
Nach dem Krieg schickte Doro ihr das Bild mit einem Brief und die beiden hielten seitdem den Kontakt. Bei ihrem ersten Besuch in Tübingen 1981 trafen sich die beiden wieder, und eine tiefe Freundschaft entwickelte sich.
Noemi Hamm war in den 1990er Jahren Teil der Jury, die über den Entwurf für das Denkmal am Synagogenplatz entscheiden sollte. Mit der gefällten Entscheidung war sie nicht sehr glücklich:
„Diese Löcher sollen die Familien symbolisieren, die aus Tübingen umgekommen. Entschuldigen Sie, aber das ist nicht mein Gefühl.“
Insgesamt habe sie an ihren Besuch in Tübingen keine großartigen Erwartungen gehabt, sei aber positiv überrascht worden.
„Ich fühle mich nicht so gut wie in Israel, aber ich fühle mich gut hier.“
Literatur- und Quellenangaben
Geschichtswerkstatt Tübingen: “Wege der Tübinger Juden - Eine Spurensuche.” Film von 2004.
Geschichtswerkstatt Tübingen (Hg.): "Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden." Stuttgart 1995.