aus Tübingen
Artikel von Frederic Zumkeller
Doris Doctor, geborene Bernheim, wurde am 11. April 1923 in Tübingen geboren, ihr jüngerer Bruder John, gebürtig Hans Bernheim, ein Jahr darauf, am 5. August1924, auch in Tübingen. Ihre Mutter Hanna Bernheim war Sozialarbeiterin und als Präsidentin im jüdischen Frauenverein Tübingens tätig, wo sie sich um die Organisation kultureller Veranstaltungen kümmerte. Zusammen mit ihrer Mutter sang Doris dort auch im Chor. Ihr Vater Adolph war Textilfabrikant und besaß eine mechanische Buntweberei in Bronnweiler bei Reutlingen. Dort wohnte die Familie, bis Doris 1930 in Tübingen eingeschult wurde.
Anfangs wurde die Tochter von ihrer Mutter mit dem Auto ein Stück des Schulweges gefahren, was Doris als etwas sehr Besonderes erlebte, da es damals wenige Autos gab, und noch weniger, die von Frauen gefahren wurden.
Antisemitische Ausgrenzung in der Schule
Die Bernheims zogen in ein Haus auf dem Österberg, wo sie die einzige jüdische Familie waren. Allerdings musste Doris an ihrer neuen Schule, der Wildermuth Schule, früh Erfahrungen mit antisemitischen Beleidigungen machen, so wurde sie von einer Mitschülerin als „Judenmädchen“ betitelt. Während Doris zur Schule ging, war John noch im Kindergartenalter, und wurde bald von Familien in den Nachbarschaftskindergarten eingeladen, den vier Familien im wöchentlichen Wechsel abhielten. Als Doris 1934 in die Mädchenrealschule in der Grabenstraße wechselte, war sie die erste jüdische Schülerin, die von ihrer damaligen Lehrerin unterrichtet wurde. Doris hatte in der Mädchenrealschule in Tübingen zwei gute Freundinnen, die beide Töchter von Beamten und keine Jüdinnen waren. Doris und John waren einige der wenigen jüdischen Kinder in Tübingen, die Gemeinde war eher klein.
In der Schule wurde der Unterricht nach nationalsozialistischer Doktrin abgehalten, jedoch waren die Geschwister Bernheim dennoch bei Schullandheimausflügen und Ausflügen des „Amts für Volkswohlfahrt“ (NSDAP-Dienststelle) dabei. Die Mutter Hannah berichtet aber auch, dass John nicht nur positive Erfahrungen mit den anderen Kindern machte. So wurde John von anderen Jungen beleidigt, und es gab Prügeleien zwischen ihnen, da John sich gegen antisemitische Beleidigungen zur Wehr setzte.
Gegen Ende der 1930er Jahre entschieden sich die Eltern, Doris und John auf andere Schulen zu versetzen, da sich die Situation für die jüdische Bevölkerung weiter verschärfte.
Doris' Flucht nach England und nationalsozialistischer Terror
John kam in eine jüdische Schule in Berlin, während Doris im Juni 1937 im Rahmen eines Kindertransports (10.000 jüdische Kinder aus Dt., At., Cz.) auf ein Internat nach England kam. Doris hatte große Probleme bei der Wiedereinreise, da sie ihre Schulferien mit ihrer Familie verbringen wollte. So wurde sie von der Gestapo aufgefordert, eine eidesstattliche Versicherung zu unterschreiben, dass sie die deutsche Grenze innerhalb von vier Tagen passieren würde. Da die Schule erst in drei Wochen wieder beginnen würde, musste sich schnellstmöglich um eine Unterkunft in England gekümmert werden, da sonst Internierung für die damals 15-jährige Doris drohte. Glücklicherweise kam sie bei einer Nichte ihres Vaters unter, allerdings dennoch zwei Wochen vor Schulbeginn, eine Zeit, die sie gerne mit ihrer Familie verbracht hätte.
Nach 1938 verschlimmerte sich die Lage für die jüdische Bevölkerung weiter. Die Terrormaßnahmen der Nationalsozialisten gegen die jüdische Bevölkerung, wie beispielsweise die Novemberpogrome, nahmen weiter zu. Es kam zu Hausdurchsuchungen bei der Familie Bernheim, und auch zu Verhaftungen in der näheren Verwandtschaft. Auch Doris und Johns Eltern verloren den Großteil ihres Besitzes im Zuge der finanziellen Ausplünderungen des nationalsozialistischen Regimes. Der Vater von Doris und John, Adolph, der eine Textilfabrik zusammen mit seinen Brüdern besaß, musste diese zu einem sehr niedrigen Preis verkaufen, ebenso das Haus auf dem Österberg in Tübingen.
Flucht in die USA und weiteres Leben
Zwei Wochen vor Kriegsbeginn flohen dann auch die Bernheims im August 1939, mit dem Ziel, in die USA auszuwandern. Doris wurde in England von ihrer Mutter besucht, und durfte kurz auf das Schiff, mit dem ihre Eltern und ihr Bruder weiter reisten, um sich zu verabschieden. Sie selbst sollte erst nachkommen, wenn sie ihre Schulausbildung in England absolviert hatte.
Das Leben in den vereinigten Staaten war nicht einfach für die Familie, so fand der Vater Adolph keine Arbeit in New York, und die Familie zog nach Cincinnati, wo Cousinen des Vaters wohnten. Ende Dezember kam Doris endlich wieder zu ihrer Familie, sie hatte ihre ersten Monate in den USA bei Verwandten in New York verbracht. In Cincinnati ließ sich Doris in Kosmetik und Handarbeit ausbilden, und unterstützte mit ihrem Gehalt ihre Familie, während John vor der Schule Zeitungen austrug.
Nach dem Krieg wurde dem Vater im Zuge der Restitution eine Rente zugeteilt, was die existenziellen Sorgen der Eltern im Exil entschärfte. Doris gründete eine eigene Familie mit ihrem Mann Bernard Doctor, einem Ingenieur, mit dem sie zwei Töchter bekam. John wurde Mechaniker, auch er gründete eine Familie in den USA.
Doris Doctor lebt heute in Israel, John Bernheim ist inzwischen verstorben.
Literatur- und Quellenangaben
Geschichtswerkstatt Tübingen: “Wege der Tübinger Juden - Eine Spurensuche.” Film von 2004.
Geschichtswerkstatt Tübingen (Hg.): "Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden." Stuttgart 1995.
Benigna Schönhagen und Wilfried Setzler (Hg.): Hanna Bernheim (1895-1990) - “History of my life”, Universitätsstadt Tübingen, Fachbereich Kunst und Kultur: 2004.