aus Haigerloch
Artikel von Ella Detscher
Therese wurde 1925 als Therese Kappenmacher in Haigerloch geboren. Ihr Spitzname, mit dem sie sich selbst auch benannte, war Tessi. Sie erinnert sich gerne an die jüdischen Feiertage, die sie dort mit ihrer Familie und der Gemeinde feierte. Ihre Familie führte eine Mazze-Fabrik und die Eltern waren oft auf Reise, um die Mazzen zu verkaufen.Therese Vater starb 1931 an einem Autounfall.
Als einziges Kind fühlte sie sich oft allein. Deshalb wuchs sie ab 1930 bei ihrer Großmutter Pauline Pollack in Tübingen, in der Keplerstraße 5 im vierten Stock, auf. Sie liebte sie sehr, weil sie ihr immer zugehört habe und nicht so streng wie die Mutter gewesen sei. Gerne ging sie mit ihrer Oma Hand in Hand die Wilhelmstraße entlang und in die Neckargasse, wo sie öfters ein Eis bekam. Samstag gingen sie in die Synagoge in der Gartenstraße, wo die Juden aus Tübingen und der Umgebung sich trafen. Therese mochte auch die Predigten und den Gesang des Vorsängers Josef Wochenmark. Bei diesem hatte sie auch privaten Religionsunterricht. Sonntags spazierten sie und ihre Oma nach Schwärzloch, wo sie im Gasthof Käsebrot aßen, und wo sich viele Familien, jüdische und nicht-jüdische, trafen. Therese erinnerte sich, dass dort alle Kinder immer gemeinsam spielten. Bei den Nachbarn, die in der Keplerstraße unter ihnen wohnten, habe sie auch manchmal Weihnachten mitgefeiert und das sehr schön gefunden.
Antisemitische Ausgrenzung in der Schule
Ab 1933 erfuhr sie in der Schule Antisemitismus durch ihrer LehrerInnen und auch die MitschülerInnen. Sie war die einzige Jüdin in ihrer Schule, da die anderen jüdischen Kinder in Tübingen älter waren als sie.
Besonders eine Lehrerin, Frau Merz, habe sie gequält, beschimpft und den anderen Kindern gesagt, dass diese nicht mehr mit ihr spielen und gemeinsam nach Hause laufen dürften. Ihre Großmutter beschwerte sich in der Schule, aber es änderte sich nichts.
„Und ich hatte keine Freunde mehr und die Kinder waren schlecht zu mir. Später haben mir sogar Kinder im Winter Schneebälle in mein Gesicht geschmissen und Steine an mich geschmissen und mich verleumdet. Sie haben gesagt ‚Du dreckige Jüdin, was machst denn du noch hier? Wir wollen dich hier nimmer sehn.‘“
Therese, die ja 1933 erst acht Jahre alt war, verstand überhaupt nicht, was los war.
„Und ich hab noch der Großmutter gesagt: Was ist n das, ein Jude? Denn ich konnte gar nicht verstehen, was bin ich anders wie die andren Kinder? Das hab ich gar nicht gewusst, denn früher hat man da keinen Unterschied gehabt zwischen Juden und Christlichen. Wir haben da zusammen gewohnt. Wir waren alle deutsch, und haben deutsch gefühlt.“
Flucht ins damalige Palästina und Deportation der Großmutter
Wegen dieser Anfeindungen schickte ihre Großmutter Therese zu ihrer Tante Klara nach Karlsruhe. Dort gefiel es ihr sehr gut. Ihre Mutter war damals zwei Jahre in Palästina und bereitete die Ausreise ihrer Tochter vor. Sie ging eine Scheinehe ein, um einen britischen Pass zu bekommen (Palästina war unter britischem Mandat), um so nach Deutschland ein- und ausreisen zu können. Sie kam zurück nach Karlsruhe, um ihr einziges Kind zu sich zu holen. Als ihre Mutter mit Therese nach Tübingen fuhr, um die Koffer zu packen, gab es keinen Abschied. Die Großmutter Pauline wurde später in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie dreieinhalb Jahre überlebte. Sie überlebte, weil ihr Sohn Max als Koch im Lager arbeitete und sie sehr durch die Familienmitglieder, die auch im KZ Theresienstadt waren, unterstützt wurde. Als alte Frau, mit über 70, ist ihr Überleben ist ein Wunder. Sie hat später von dieser furchtbaren Erfahrung kaum etwas erzählt.
Therese und ihre Mutter fuhren mit dem Zug nach Triest (Italien). Auf der Flucht hatte Therese dieses erschreckende Erlebnis:
„Aber im Zug, der stand still auf einmal, in einem kleinen Ort, und da kam ein Nazi rein und hat gesagt ‚Du Frau, du gehsch raus, aber du Mädle, du bleibsch sitze!‘ Und da hat man sie rausgenommen, und ich hab geschrien, weil ich hab gedacht, ich bin ganz allein jetzt. Ein Mädchen alleine, acht Jahre alt. Aber dann habe ich gesehen, der Zug ist schon wieder angefahren, da hat man sie wieder rein geschuckt und ich war so freudig. Und da hat die Mutter zu mir gesagt, ‚Tessi, du guggsch raus, wo die schönen Bäume sind und wo die Berge sind und halt deine Puppe an deinem Herzen.‘“
Von Triest aus fuhren Therese und ihre Mutter mit dem Schiff drei Wochen lang nach Jaffa (damaliges Palästina).
Als „Jekkes“ (jiddisches Wort, Bezeichnung für Juden aus deutsch-sprachigen Ländern) war das Leben sehr ärmlich. Da sie anfangs kein Geld hatten, lebten sie und ihre Mutter in einem Frauenheim mit 25 Frauen in einem Zimmer, bis ihre Mutter Arbeit und ein ganz kleines Zimmer fand. Therese spielte auf der Straße, bis sie in eine Ganztagsschule kam. Doch die Ankunft fiel ihr nicht leicht:
„Das Schwierige war für mich, als ich wieder in die Schule kam, da haben sie mich wieder in die zweite Klasse geschickt, zu den Kleinen, weil ich die hebräische Sprache nicht konnte. Und da haben sie mich, auch die jüdischen Kinder, mich ausgelacht, weil ich nur deutsch gesprochen hab.“
Weiteres Leben und Emigration in die USA
Als sie etwas älter war, wurde Therese im Untergrund durch die Hagana militärisch ausgebildet und half Flüchtlingen, illegal ins Land zu kommen. Sie machte mit etwa 16 eine Ausbildung zur Krankenschwester. Ihr Traum war es Psychologie zu studieren, aber sie konnte das Studium nicht bezahlen. Auch die ständige Unruhe und Gewalt, und die mangelnde Perspektive in Israel war für sie schwer zu ertragen. Sie zog nach Jerusalem, wo das amerikanische Konsulat war, um durch Kontakte an ein Visum für die USA zukommen. Bis zum Tag ihrer Abreise konnte sie niemandem erzählen, dass sie ausreisen wollte, denn die Hagana hatte ihre Ausbildung bezahlt. Sie hatte Angst, dass ihre Ausreise verhindert worden wäre. 1951 emigrierte sie in die USA.
Therese ging sie zu ihrer Tante und ihrem Onkel nach New York City, doch als der Onkel starb, hatte die Tante kein Geld um für Therese zu sorgen. Therese arbeitete wieder als Krankenschwester. Im Alltag hatte sie wieder Schwierigkeiten wegen der Sprache. Allerdings traf sie in New York einen Teil ihrer Verwandten wieder, die die Shoah überlebt hatten. Darunter war auch ihre Großmutter Pauline. Diese empfahl ihr ihren künftigen Ehemann, Louis Stern, der selbst viele Verwandte in der Shoah verloren hatte. Therese heiratete und bekam drei Kinder, mit denen sie auch deutsch sprach. Zur Hochzeit in New York kamen auch ein paar der alten bekannten jüdischen TübingerInnen und HaigerlocherInnen.
„Da ham wir immer gesprochen, von dem schönen Tübingen, und wie schrecklich die Zeit gekommen ist.“
Sie bemühten sich, dass auch ihre Mutter aus Israel in die USA kommen konnte, was nach einiger Zeit auch gelang. Ihren Mann verlor Therese 1963 durch einen Autounfall. 15 Jahre später heiratete sie noch einmal, Keith Lawrence. Mit diesem zog sie nach Florida in Kalifornien. Sie genießt das schöne Wetter, besucht alte Menschen im Altenheim und schreibt Briefe mit den verschiedensten Kontakten in Deutschland und Israel. Sie geht nur an den hohen Feiertagen in die Synagoge. Sie genießt es auch, dass sie in den USA als Jüdin mit den verschiedensten Menschen zusammenleben kann, „so wie früher in Tübingen“.
1981 kam sie das erste Mal zurück nach Haigerloch, wo sie ihr Elternhaus besuchte. Die neuen Besitzer wollten sie das Haus nicht besichtigen lassen. Sie hatten Angst, dass sie Anspruch auf das Haus erheben wollte. Weder in Haigerloch noch in Tübingen wurden ihre Anträge auf Entschädigung positiv beantwortet. In Tübingen konnte sie die Wohnung in der Keplerstraße nochmal anschauen. Zeitweise überlegte sie sogar, nach Tübingen zurückzukehren. Aber inzwischen war ihre Familie, ihre Kinder und ihre Mutter in den USA.
Bei einem weiteren Besuch in Tübingen im Jahr 2004 sprach Therese bei einem Empfang im Rathaus, wo sie es ein „kleines Wunder“ nannte, dass ein Kreis von Überlebenden sich hier wiedertraf. Sie sei mit dem Alter mehr bereit dazu, zu „vergeben und zu vergessen“.
„Es ist nicht mehr unbedingt nötig, mir die Unmenschlichkeiten der Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen. Unsere Töchter und Söhne wissen nicht, ob sie Fragen stellen sollen, oder es lassen, in der Hoffnung, dass die Wunden langsam verblassen. Ich muss zugeben, ich weiß es auch nicht.”Therese Stern-Lawrence ist 2013 in Florida gestorben.
Literatur- und Quellenangaben
Geschichtswerkstatt Tübingen: “Wege der Tübinger Juden - Eine Spurensuche.” Film von 2004.
Geschichtswerkstatt Tübingen (Hg.): "Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden." Stuttgart 1995.
Lilli Zapf: "Die Tübinger Juden." Tübingen: Katzmann Verlag, 1981.