aus Hechingen
Artikel von Linda Sum
Ruth Schmalzbach wurde am 3. November 1920 als Tochter von Mina Weil und Leon Schmalzbach in Hechingen geboren.
Mina Schmalzbach (geb. Weil) wurde am 5. Mai 1888 in Haigerloch geboren und besuchte dort für vier Jahre die Höhere Töchter Schule. Ruths Vater Leon Schmalzbach war der letzte Rabbinatsverweser, Kantor und Lehrer in der Hechinger jüdischen Gemeinde und stammte aus Jaroslau in Galizien. Die orthodoxe Familie Schmalzbach war sehr musikalisch, so war der Vater von Leon Schmalzbach Musiker in den „Münchner Kammerspielen“ gewesen. Leon selbst befasste sich mit religiösen und musikalischen Studien und wurde Komponist. Er komponierte unter anderem einige Stücke für seine Tochter Ruth.
1913 wurde als staatlich anerkannter Lehrer auf Lebenszeit in der Jüdischen Gemeinde Hechingen fest eingestellt, wo er schließlich auch seine Frau Mina kennenlernte.
Die beiden lebten mit ihrer Tochter Ruth in der Lehrerwohnung im 1. Stock des Jüdischen Gemeindehauses in der Goldschmiedstraße 18, direkt neben der Hechinger Synagoge.
Als Ruth sechs Jahre alt war, ließen sich ihre Eltern scheiden.
Mina Schmalzbach zog im November 1928 gemeinsam mit ihrer Tochter nach Bayreuth in Oberfranken zu ihrer Schwester und deren Ehemann. Der Rabbiner Leon Schmalzbach blieb in Hechingen zurück.
Ruths Kindheit in Bayreuth
Bis zu ihrer Flucht lebte Ruth mit ihrer Mutter oder auch allein getrennt von ihrem Vater. In Bayreuth besuchte sie das dortige Mädchenlyzeum bis 1937. Insgesamt besuchten 184 jüdische Schülerinnen das Mädchenlyzeum in Bayreuth in den Jahren von 1867 bis 1938. Die meisten davon stammten aus wohlhabenden jüdischen Familien mit gutem Ruf. In dieser Schule waren jüdische Lehrer und Rabbiner eingestellt, um den jüdischen Schülerinnen Religionsunterricht zu ermöglichen. Der Rabbiner Dr. Kusznitzki unterrichtete von 1880 bis zu seinem Ruhestand in 1911 am Mädchenlyzeum in Bayreuth und bedankte sich in einem Schreiben an die Schule für die "wohlwollende Beurteilung seiner Lehrtätigkeit“
Bis 1933 werden keine antisemitischen Vorfälle in den Schulunterlagen erwähnt. Die Erinnerungen der ehemaligen Schülerinnen belegen, dass sie bis zu der Machtübernahme der Nationalsozialisten der Umgang miteinander an der Schule zwanglos gewesen war.
Antisemitische Ausgrenzung in der Schule
Zu diesem Zeitpunkt war Ruth schon seit zwei Jahren Teil der Schule. Lange Zeit war der Direktor Gustav Pauli der Schulleiter der Schule. Einige jüdische Schülerinnen erinnern sich, dass er sich bei den fortschreitenden antisemitischen Vorgängen an der Schule hinter sie stellte. Gesundheitsbedingt musste er jedoch die meisten seiner Tätigkeiten als Schulleiter abgeben, welche Heinrich Knörl, ein nationalsozialistischer Studienrat, zunächst nur übergangsweise übernahm.
Schon 1938 wurde er jedoch offiziell der alleinige Oberschuldirektor. Das ganze Lehrerkollegium musste sich 1933 dem „Nationalsozialistischen Lehrerbund“ anschließen, ebenso etablierte sich der „Bund deutscher Mädel“ (BDM) in der Schule. Der Unterrichtsstoff wurde an die Ideologie des Nationalsozialismus angepasst, feierliche Flaggenehrungen und allgemeinen nationalen Feiertagen wurden in den Schulalltag übernommen.
Knörl war es besonders wichtig, dass die gesamte Schülerschaft dem BDM angehörte damit die Quote von mindestens 90% überschritten wurde und die Schule so die Erlaubnis erhielt, eine Fahne der Hitlerjugend hissen zu dürfen. Schon 1935 konnte dies erreicht werden.
Im Schuljahr 1937/1938 waren nur noch die letzten beiden jüdischen Schülerinnen an der Schule nicht Teil des BDM, eine davon war Ruth Schmalzbach. Die Schulleitung teilte den Eltern von Ruth und dem anderen jüdischen Mädchen mit, dass sie unerwünscht seien und die Schule verlassen sollten. Zwar gab es keine körperliche Gewalt gegen die jüdischen Schülerinnen, jedoch zeigte sich der Antisemitismus in allen Aspekten des Schulalltags. Die jüdischen Schülerinnen waren von den Aktivitäten des BDM ausgeschlossen, und in der Schule wurde mithilfe des traditionellen Puppenspiels nationalsozialistische Propaganda verbreitet. 1937 konnte Ruth die Schule erfolgreich abschließen, was vermutlich nur durch den Schutz des damaligen Schulleiters Pauli möglich war. Eigentlich war Juden und Jüdinnen der Schulbesuch in Bayreuth schon seit 1936 gesetzlich verboten.
Ruths Berufsausbildung und Flucht nach England
Im Anschluss daran absolvierte Ruth Schmalzbach eine Berufsausbildung an der Jüdischen Haushaltsschule in Frankfurt von 1937 bis Mitte April 1938. In dieser Zeit wurde davon ausgegangen, dass die Berufsausbildung im hauswirtschaftlichen Bereich und die Fähigkeit der eigenen und fremden Haushaltsführung die Chancen der Mädchen zur Flucht erhöhte.
In Frankfurt wurde 1936 ein Ausbildungszentrum für jüdische Jugendliche eingerichtet, wo diese Verpflegung und Unterkunft fanden. Die jüdische Haushaltsschule beinhaltete ein Internat. Viele Juden hofften, dass Frankfurt für sie ein Zwischenstopp vor der Flucht ins Ausland sein könnte. In ihrer Hoffnung auf Auswanderung gab es für viele Juden und Jüdinnen immer wieder Rückschläge, da sich oft die Lage änderte, welche Länder noch Flüchtlinge aufnahmen. Ruth jedoch gelang es letztendlich im März 1939, ein paar Monate nach der Pogromnacht, mit lediglich 19 Jahren nach England zu fliehen. Sie verließ Deutschland ohne ihre Eltern.
Mina Schmalzbach, mit der sie in Bayreuth gelebt hatte, blieb bei Ruths Umzug nach Frankfurt zurück.
Deportation und Ermordung der Eltern in Riga
Mina Schmalzbach zog 1936 zurück nach Hechingen, wo ihr Ex-Mann noch lebte. Leon Schmalzbach wurde nach der Zerstörung der Synagoge in der Goldschmiedstraße in Hechingen in der Pogromnacht vom 9. auf den 19. November 1938 für einen Monat in so genannte „Schutzhaft“ im KZ Dachau genommen.
Nur wenige Zeit später plante er die Ausreise aus Deutschland und Emigration nach Paraguay und beantragte dafür einen Reisepass, der ihm am 12. Juni 1939 genehmigt wurde.Leon Schmalzbach wurde jedoch noch im November desselben Jahres erneut verhaftet und in Stuttgart inhaftiert, wodurch seine Pläne für eine Auswanderung endgültig verhindert wurden. Er wurde von der Zweigstelle Württemberg der Reichsvereinigung der Juden als Vertrauensmann für die Juden in Hechingen erklärt. Schließlich erhielt er das Rundschreiben zur so genannten „Evakuierung“ der Hechinger Juden. Er wurde zur Leitung des Deportationszuges ernannt und war für die seelische Betreuung der Deportierten zuständig. Am 27. November 1941 wurden die Hechinger Juden, einschließlich Leon und Mina Schmalzbach, deportiert.
Sie kamen im Sammellager Killesberg in Stuttgart an und verließen es am ersten Dezember mit dem ersten Deportationszug aus Baden-Württemberg mit ca. 1000 Juden aus Hohenzollern in Richtung Riga. Die Fahrt dauerte drei Tage und Nächte.
Im Lager Jungfernhof in Riga gab es Hunger, Kälte, harte Arbeit und Erschießungen. Der Todeszeitpunkt von Leon und Mina Schmalzbach ist unbekannt, jedoch lässt sich aus einem Brief von Meta Jaschkowitz (geborene Weil), die wie die Schmalzbachs aus Hechingen kam, lesen:
„Schmalzbach(,) unser guter Lehrer(,) ist gleich im Jungfernhof bei Riga verhungert und gestorben, ebenfalls Isidor Bernheim.“
Ruths Auswanderung in die USA nach dem Krieg
Nach dem Ende des Weltkrieges und nachdem sie ihre Mutter und ihren Vater in Konzentrationslagern verloren hatte, zog Ruth am 22. Juni 1946 mit 25 Jahren auf dem schwedischen Motorschiff „S.S. Gripsholm“ von Liverpool in die Vereinigten Staaten von Amerika weiter. Sie reiste als Touristin dritter Klasse (Standardklasse) nach New York, wo sie sich in Ruth Bach umbenannte. Mit der Heirat ihres Mann Joseph Albert Solomon (*1920) zog sie nach New Jersey um und lebte schließlich in Paramus, Bergen County in dem Bundesstaat New York. Die beiden bekamen zwei Kinder.
Ihre Tochter Miriam Lerner übergab im Jahre 1991 das Gedenkblatt („A Page of Testimony“) von ihrem Großvater und Ruths Vater Leon Schmalzbach an das Museum Yad VaShem. Im Jahre 1986 kehrte sie zum ersten Mal seit ihrer Auswanderung in Begleitung ihres Mannes an ihren Geburtsort Hechingen zurück, infolge einer Einladung der Stadt Hechingen zur Eröffnungsfeier der Gedenkstätte der Alten Synagoge Hechingen.
Erinnerungen an Hechingen
In einem Brief an den Bürgermeister Roth und seine Frau nach ihrem Besuch drückte sie aus, dass all die Kompositionen, die im Programm des Besuchs gespielt wurden und von ihrem Vater Leon Schmalzbach komponiert wurden, sie an ihre Zeit in Hechingen mit ihrem Vater erinnerten. Sie drückte ihre Eindrücke aus Hechingen wie folgt aus
„Ich habe oft meinem Manne gesagt, wenn er einmal nach Hechingen kommen könnte, so würde er nicht mehr heimgehen wollen. Ich wusste, dass das etwas übertrieben war, aber es ist sehr befriedigend für mich, dass er diese Woche in Hechingen mit mir erleben, und die Atmosphäre meiner ersten Heimatstadt mitfühlen konnte, etwas nach dem ich mich oft gesehnt habe. Ich hatte meine ersten Eindrücke in Hechingen immer lebhaft in meiner Erinnerung. Sie waren mit der Stadt und mit meinem Vater verbunden; mit der Aussicht auf die Burg Hohenzollern, mit dem Gemeindehaus und der Synagoge, und mit Musik. Ich habe an meine ersten Jahre mit Wärme, und manchmal mit Heimweh zurückgedacht. […] Während meiner Woche in Hechingen war ich in Person und im Geist wieder daheim. Es war, als ob nun endlich ein Kreis geschlossen wurde, der während all den Jahren noch offen, unvollständig und unerfüllt war.“
Am 2. Mai 2019 starb Ruth Solomon im Kreise ihrer Familie.
Literatur- und Quellenangaben
Adolf Vees: "Juden und Nichtjuden - der schwierige Weg zur Gedenkstätte Alte Synagoge Hechingen"
Adolf Vees: „Das Hechinger Heimweh – Begegnungen mit Juden“, Tübingen: Silberburg-Verlag, 1997.
Bernd A. Weil: „Die Geschichte der jüdischen Familie Aumann: Neue Fotos, Relikte und Dokumente.“ Books on Demand: 2019.
Bernd A. Weil: „Verfolgt – deportiert – überlebt: Unvergessliche Nachbarn”, Books on Demand: 2015.
Gedenkstätten-Rundschau Nr. 3 vom Oktober 2009. Online verfügbar unter: https://www.gedenkstaettenverbund-gna.org/images/downloads/gedenkstaettenrundschau/GR_3_200910.pdf, aufgerufen am 12.11.2020.
Kreisarchiv Zollernalbkreis: Ehemalige jüdische Mitbürger in Hechingen – Dokumentation des Besuches vom 16. - 23. September 1986 (1. Bersuchergruppe), Stadt Hechingen.
Monica Kingreen: „Nach der Kristallnacht: Jüdisches Leben und Antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938-1945”, Campus Verlag: 1999.
Otto Werner: „Jüdisches Hechingen”, Haigerloch: Medien und Dialog, 2000.
Otto Werner: Alte Synagoge Hechingen, Haigerloch: Medien und Dialog, 2007.
Traude Bollauf: „Dienstmädchen-Emigration: die Flucht jüdischer Frauen aus Österreich und Deutschland nach England 1938/39”, Münster: LIT Verlag, 2011.
Waldemar Luckscheiter und Manfred Stützle: “Die Rettung der Alten Synagoge Hechingen”, Verein Alte Synagoge Hechingen e.V.
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https://gedenkbuch.bayreuth.de/opfer/schmalzbach-geb-weil-mina/, aufgerufen am 12.11.2020.
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