aus Tübingen
Artikel von Ella Detscher
Wilhelm Siegfried Laubinger wurde 1935 in Tübingen geboren. Er hatte drei ältere Geschwister: Seinen Bruder Johann und seine Schwestern Therese und Ruth. Die Familie zog aber erst 1939 von einem nahegelegenen Dorf in die Stadt, in die Ammergasse 17. Als er etwa sieben Jahre alt war zog die Familie in die heutige Katharinenstraße 2, bei der Lorettokaserne. Wilhelm wurde in der Uhlandschule (im heutigen Uhlandgymnasium) eingeschult.
Schon beim Spielen in der Ammergasse wurde er antiziganistisch beleidigt: Wilhelm spielte gerne und viel mit den anderen Kindern, aber diese nannten ihn immer „Zigeuner“. Er wusste, dass dies als Beleidigung gemeint war. Seine Familie bezeichnete sich als Sinti. In der Schule wurde es dann besonders schlimm, weil er vollkommen ausgeschlossen und herabgewürdigt wurde.
„Da unten, das ist ja in der Nähe vom Anlagensee dort, da sind wir meistens in der Pause raus. […] Eine Rauferei unter Kindern, das wäre normal gewesen, aber man hat einfach gesagt: ‚Gib dich doch nicht mit dem Zigeuner ab!‘ […] Dann haben sie Steine geworfen und so weiter.“
Auch im Wohnhaus hatte Wilhelm Angst, denn dort wohnte ein SS-Mann, der ihm gedroht hatte, ihn zu erschießen, nur weil er seine Waffen im Auto angeschaut hatte. Wilhelm hatte einen sehr guten Freund, der im selben Haus wohnte, mit dem er immer spielen durfte. Auch dessen Eltern waren immer sehr freundlich zu ihm und luden ihn zum Kuchenessen zu sich ein.
Antiziganistische Ausgrenzung und Verfolgung
Wilhelms Vater Hermann wurde ab 1939 verpflichtet, für das Winterhilfswerk zu arbeiten. Er sammelte mit einem Pferdefuhrwerk Kleidung in der Umgebung ein, und Wilhelm und seine älterer Bruder Johann durften mithelfen, wenn sie schulfrei hatten. Dabei achtete der Vater sehr darauf, dass die Kinder nicht die rassistischen Vorurteile der Nationalsozialisten bestätigten, denn er wusste, dass dies für sie viel schlimmere Folgen haben würde, als für andere:
„Da gab es Schuhe, Pullover, Hemden und alles für Damen und Herren und für Kinder. Aber mein Vater hat immer gesagt: ‚Kinder, nehmt von dieser Kleidung nie etwas mit, und wenn es nur ein Schuhbändel wäre! Ihr dürft nie was mitnehmen!‘ ‚Ja, machen wir.‘ Denn da steht der Tod drauf. Wenn wir da was mitnehmen würden, würden wir verhaftet werden, und würden das unwahrscheinlich büßen müssen.“
Die Bestätigung der Stereotype wurde aktiv durch die Gesellschaft provoziert und Angehörige der Minderheit dauerhaft damit gestresst, die Bestätigung der Vorurteile abzuwenden, wie die Erinnerung zeigt. So erinnert sich Wilhelm beispielsweise , dass sein Vater von der Polizei aufgesucht wurde und man ihm mitgeteilt hat, dass die Söhne gefälligst nicht so sauber und elegant durch die Stadt laufen sollten (denn das rassistische Bild der Nazis verlangt, dass „Zigeuner“ schmutzig, arm etc. sind). Rassistische Vorurteile gegen sog. „Zigeuner“ wurden im Nationalsozialismus Gesetz. Sinti, Roma und weitere wurden mehr und mehr aus der Gesellschaft ausgeschlossen, benachteiligt und ihnen wurden die BürgerInnenrechte vorenthalten, obwohl sich die allermeisten der deutschen Sinti und Roma auch als Deutsche verstanden. Die Tübinger Stadtverwaltung bzw. der Oberbürgermeister, wusste bereits im Januar 1940, dass alle Sinti deportiert werden würden. In Tübingen gab es neun Sinti. Wilhelm erinnerte sich, dass seinem Vater im „Hirsch“ und in den Kinos der Eintritt verwehrt wurde und auch auf den Sitzbänken auf der Platanenallee standen Schilder mit der Aufschrift „Für Juden und Zigeuner verboten“ und sie wurden vom Gehweg herunter gedrängt. Nur im Kino „Museum“ habe der Vater manchmal heimlich Karten bekommen, und durfte sich mit seinen beiden Töchtern reinschleichen, wenn es schon dunkel im Kinosaal war.
Inhaftierung und Zwangsarbeit des Bruders Johann Laubinger
Weil der etwa 19 Jahre alte Johann es wagte, wieder normal gekleidet in Tübingen unterwegs zu sein, wurde er durch die Gestapo gefangen genommen, und ins Gestapo-Gefängnis in der Münzgasse 13 gebracht. Diese schreckliche Erinnerung Wilhelms bezieht sich wahrscheinlich auf das Jahr 1941. Die Mutter nahm Wilhelm mit in die Polizeistelle, um Johann einige Sachen vorbeizubringen. Der Polizist, bei dem sie sich anmeldete, vertrieb sie brutal, trat sie, sodass sie weinend mit Wilhelm nach Hause lief. Auch der Vater wurde abgewiesen. Johann wurde ein halbes Jahr in das „Arbeitserziehungslager“ Kniebis im Schwarzwald inhaftiert, das mit Stacheldraht umgeben war. Die Häftlinge dort wurden zum Straßenbau geschickt (die heutige B 500). Anschließend wurde Johann zur Zwangsarbeit verpflichtet und dafür nach Friedrichshafen am Bodensee gebracht. Dort musste er für die Flugzeugfirma Dornier Start- und Landebahnen betonieren.
Nur an den Feiertagen durfte er die Familie in Tübingen besuchen.
„[U]nd dann war er über Weihnachten bei uns und hat seinen Urlaub einen Tag überzogen, einen Tag! Dann kam schon die Polizei, und mein Vater sagte ‚Johann, da kommt die Polizei! Die werden dich jetzt holen.‘ und wir Kinder, Mutter, Geschwister, standen auch alle in diesem Zimmer. Johann hat es gesehen und gesagt: ‚Ja, jetzt holen sie mich! Vater, die holen mich, und da gibt’s keinen Zweifel: Diesmal geht’s woanders hin!‘“
Deportation und Ermordung des Bruders Johann im KZ
Sein Bruder Johann wusste, dass ihm jetzt KZ-Haft drohte. Er versteckte sich, und die Familie musste die Polizei anlügen, sie wüsste nicht, wo er sei. Johann wollte nicht mehr zurück nach Friedrichshafen, sicher auch, weil er sich vor der Strafe fürchtete. Da es nicht möglich war, unbemerkt vom Bahnhof in Tübingen abzureisen, brachte der Vater ihn heimlich mit dem Pferdefuhrwerk nach Kirchentellinsfurt an den Bahnhof.
„[U]nd wir haben dann gewartet – ich war dabei, ich durfte mit – bis der Zug von Tübingen dort angehalten hat, und mein Bruder ist eingestiegen. Das war das letzte Mal, dass ich meinen Bruder Johann gesehen hab, als kleiner Junge.“
Johann flüchtete zu Verwandten in Wiesbaden, und mit diesen nach Österreich. Vermutlich hatten die Nationalsozialisten mit der systematischen Deportation der Sinti und Roma bereits begonnen, von der meist die ganze Familie an einem Ort betroffen war. Johann und die Verwandten wurden ins KZ Mauthausen (bei Linz, Österreich) gebracht, und dann ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau (heute südliches Polen), wo es ein separates „Zigeunerlager“ gab. Von dort erhielt die Familie in Tübingen noch einen Brief von Johann , sodass sie wussten, dass er im Lager ist. Wilhelm erinnerte sich, dass im Januar 1945, also kurz vor Kriegsende, noch ein Brief von ihm aus einem der Außenlager des KZ Flossenbürg kam. Der genaue Todesort und -zeitpunkt sind aber unbekannt.
Auch der Rest der Tübinger Familie Laubinger war in großer Gefahr. Die Nationalsozialisten beschlossen Ende 1942, dass alle, die die nationalsozialisten rassistisch als “Zigeuner” kategorisierten, nach Auschwitz deportiert werden müssen, das heißt ermordet. Eine befreundete Sinti-Familie aus Reutlingen wurde deportiert, und Wilhelm erinnert sich an den schmerzlichen Tag des Abschieds, an dem die beiden Familien gemeinsam ein großes Abschiedsessen veranstalteten und alle unheimlich deprimiert und hoffnungslos waren. Dann bekam auch die Familie Laubinger das Verbot, die Stadt zu verlassen.
Zwangsarbeit der Familie Laubinger in Tübingen
Es ist ein kleines Wunder und ein glücklicher Zufall, dass die Familie nicht deportiert wurde. Die Eltern mussten unter strenger Bewachung in der Rüstungsindustrie in Tübingen arbeiteten, bis 1945 französische Truppen Tübingen befreiten. Die Familie verlor aber sehr viele ihrer Angehörigen. Nur schätzungsweise 200-300 Personen, die von den Behörden als „Zigeuner“ gelistet waren, wurden nicht deportiert. Insgesamt starben etwa 1/3 der deutschen Sinti in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Der Genozid an den Sinti und Roma wird auch Porajmos (Romanes: Verschlingen) genannt.
Antiziganistische Diskriminierung auch nach dem Krieg
1953 wurde der Familie eine Zwei-Zimmer-Wohnung angeboten, im „Asozialen-Viertel“, erinnerte sich Wilhelm. Vermutlich spricht er vom Wennfelder Garten, in dem nach dem Krieg eine Siedlung als Randsiedlung aufgebaut wurde, in der „Unliebsame“ untergebracht wurden. Neben einigen Sinti-Familien, die noch heute von einigen Bewohner*innen als „die Zigeuner“ erinnert werden, wurden dort v.a. sog. „Vertriebene“ untergebracht.
Nach 1945 habe die Diskriminierung nie aufgehört. Dass sich im Denken vieler nichts geändert hat, zeigen v.a. die Erlebnisse bei den Versuchen der Familie, campen zu gehen.
„Ich arbeite das ganze Jahr über als Kirchenorgelbauer und bin die Woche über von der Alb bis zum Bodensee und darüber hinaus unterwegs. Wenn man dann im Sommer sechs Wochen frei kriegt, passe ich mich den Kindern an. Wir gehen nicht in Hotels, weil das zu teuer ist. Wir haben einen Campinganhänger. […]”
Einmal, nach einer Odyssee, als kein Campingplatz ihnen einen Platz anbieten wollte:
„Die Frau sagt: „Warum nicht, Sie können reinfahren!“ Als wir aber alle miteinander ausgestiegen sind, kam sie und hat gesagt: „Sie, um Gottes Willen, ich hab ganz vergessen: dieser Platz ist reserviert!“ Ich hab gesagt: Weil Sie sehen, dass wir schwarze Köpfe haben, ist es reserviert.“ Sie hat gesagt: „Das geht nicht. Die Leute kommen, Sie müssen da weg.“
Immer wieder habe er solche Erfahrungen gemacht. Antiziganismus ist in Deutschland und in ganz Europa noch immer sehr verbreitet.
Umgang seit den 1980ern
Wilhelm und ein Teil seiner Familie lebten weiterhin im Kreis Tübingen. Eine Bekannte von ihm erzählte, dass er bis zur Rente nie jemandem erzählt habe, dass er Sinto ist, und auch seine Familiengeschichte habe nie jemand gehört. Erst in den 1980er Jahren wuchs in Deutschland langsam Interesse und Bereitschaft, sich mit dieser grausamen Vergangenheit und der Schuld gegenüber Sinti und Roma zu befassen, v.a. weil sich nachfolgende Generation deutscher Sinti und Roma gegen große Widerstände um die Erinnerung und Entschädigung bemühten. Wilhelm Laubinger erzählte diese Erinnerungen bei einem Vortrag 1992 im Tübinger Stadtmuseum im Rahmen einer Ausstellung erstmals öffentlich. Wilhelm Laubinger ist inzwischen verstorben.
Literatur- und Quellenangaben
Wilhelm Siegfried Laubinger: "Bis heute gequält durch die Erinnerung." In: Ulrich Hägele (Hg.): Sinti und Roma und Wir. Ausgrenzung, Internierung und Verfolgung einer Minderheit. Tübingen: 1998, S. 165-177.